map 
aktuell 

termine 

projekte 

publikationen 

presse 

kontakt 

newsletter 

markus ambach 


arbeiten 

texte 


vita 

kontakt 


impressum 
 

B1.21st - eine Stadt entwirft sich selbst
Veröffentlicht in "Paradoxien des Öffentlichen"
Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg, 2007

Entlang der A40 hat sich im Schatten der Kernstädte ein eigenwilliger Stadtraum generiert, der durch das prognostizierte Verschmelzen der Ruhrstädte zur Metropole unvermittelt von der Peripherie zum Zentrum gewendet wird. In dieser einmaligen Umkehrung wird die "Große Straße" vom problematischen Verkehrsraum zum Boulevard der Ruhrmetropole. Dieser Bedeutungswandel deutet sich bereits latent in symbolischen Orten wie der Essener Skyline oder dem Duisburger Innenhafen an.

Analog dazu erscheinen Räume und Strategien im Umgang mit urbanen Situationen im Fokus, die sich dezentral im Schatten des öffentlichen Interesses selbst generiert haben und bisher kaum beschrieben wurden. Nicht nur transitorische Räume prägen dabei einen neuen Typus von Stadt zwischen Mobilität und Geschwindigkeit. Strategien der individuellen Raumaneignung und selbst regulierte soziokulturelle Biotope in den Zwischenräumen von Stadt und Verkehrsinfrastruktur sind nur einige Phänomene, die diesen Raum umschreiben.

Das Projekt B1.21st (1) befragt aus künstlerischer Perspektive unter anderem diese Zwischenräume und Raumgefüge auf ihre Strukturen und deren Bedingungen hin: Wie generieren sich Räume jenseits zielgerichteter Planungsinteressen und Nutzungszuordnungen? Welche Räume entstehen unter den Bedingungen weitgehender Unsichtbarkeit und relativer Selbstverantwortung ihrer Protagonisten? Wie wirkt sich das Fehlen politischer Aufmerksamkeit auf die Gestaltung von Räumen aus? Entwickeln sich andere Ökonomien unter diesen speziellen "klimatischen" Bedingungen? Bieten selbst regulierte Räume auch übertragbare Lösungsvorschläge für die Planung und welche Vermittlungsleistungen sind hier notwendig? B1.21st versucht auf diese Fragen durch künstlerische Interventionen und interdisziplinäre Projekte Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die in einen stadtplanerischen Diskurs einmünden, der positive Effekte für diesen problematischen Raum produziert. B1.21st ist Leitprojekt der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 und soll sich anlässlich dieses Ereignisses in einer Ausstellung entlang der A 40 zwischen Duisburg und Dortmund manifestieren.

Heute können einige Ansätze schon vertieft werden. Verkehrsräume wie der der A 40, die als Autobahn zu weiten Teilen direkt in das urbane Geflecht der Ruhrstädte einschneidet, produzieren in ihrem Umfeld mannigfaltig problematische Nachbarschaften. Dazu erzeugt der Transit bei den Nutzern der Verkehrskorridore wenig Identifikation mit dem Ort ansich, was ihn als urbanen Raum schnell verwaisen läßt. Besiedeln tun ihn meist nur diejenigen, deren Wohnsituation eines Tages unvermittelt mit dem Bau der Autobahn konfrontiert wurde. Neben diesen Menschen, die sich in einer Art Selbstverteidigung mit diesem Raum arrangiert haben, beherrbergt er gerade solche Nutzungen, die im normalen Gefüge der Stadt nicht vorgesehen sind. So entsteht im Windschatten einer rein auf den Verkehr fokussierten Planung ein Feld heterogenster und teilweise schwierigster Nachbarschaften, das auch die Stadtplanung mancherorts vor unlösbare Probleme stellt und das ökonomische, öffentliche und politische Interesse gegen Null sinken lässt.

Das latente Desinteresse an diesen Räumen erzeugt mitten in der Stadt ein Vakuum an staatlicher Organisation und Präsenz, Perspektivität und koordiniertem Gestaltungswillen. Einen Raum also, in dem die Kontrolle teilweise so stark sinkt, dass nahezu rechtsfreie Zonen entstehen, die geduldet werden, um ihn zumindest unter minimaler Besiedlung (und damit unter sozialer Kontrolle) zu halten. Positiv gewendet könnte man solche Räume auch als Labor für selbstverantwortliches Handeln bezeichnen. Überraschenderweise werfen diese sehr unvollständig regulierten Räume nämlich nicht die blanke Anarchie aus, sondern eine charmante, oft eher bürgerlich geprägte Selbstregulierung heterogenster Interessengruppen.

Unter diesen Bedingungen entwerfen sich also gerade auch konstruktive und ungeahnte Lösungsvorschläge: die sich selbst überlassenen Flächen beginnen, sich eigenständig zu organisieren und werfen neue Typologien wie soziokulturelle Biotope, ungeahnte Zwischenökonomien und extravagante Nachbarschaften aus. Prozesse autoproduktiver Selbstgenerierung ersetzen hier herkömmliche Ordnungsprinzipien und verdeutlichen die Möglichkeiten eines kontrollierten Freisetzens von Räumen als produktivem Gestaltungsfaktor für urbane Räume.

Solche Räume werden, solange sie die Logik der Verkehrsplanung nicht tangieren, nur latent koordiniert und organisiert und insofern vielmehr von ihren Protagonisten in direkter Interaktion mit den jeweiligen Situationen ausgeworfen. Diese Unmittelbarkeit von Reaktion und Aktion wiederspricht herkömmlichen Organisationsstrategien, zeigt aber unerwartete Erfolge beim Umgang mit problematischem Stadtraum, da sie sich an der Fluktuation und Unbeständigkeit eines hoch verdichteten Verkehrsraumes orientiert. Sie bedingt gleichzeitig eine neue, lose Formensprache solcher Orte wie auch ihren Einfallsreichtum in der Entwicklung temporärer Lösungen. Entgegen einer linearen Idee konstituieren sie sich aus unzähligen, heterogenen und individuellen Handlungssträngen heraus, die ineinander verflochten zu einem komplexen und tragfähigen Geflecht werden, einem Netzwerk selbst generierter Handlungsstrategien.

Eine solche Landschaft findet sich exemplarisch im Umfeld des Autobahnkreuzes Kaiserberg. Hier choreografiert einer der größten Verkehrsknoten der Region einen Raum ungeahnter Komplexität. Die aufgeständerten Querverbindungen, die alle einzeln formuliert sind und dem Kreuz auch den Namen "Spagetti-Junction" einbrachten, lassen verschiedene Teilräume entstehen, in denen sich Nutzungen angesiedelt haben, die ganz und gar nicht zum Bild der Autobahn passen: Zoo und Schrebergarten, Ponyhof und Fischzuchtfarm, Feuchtbiotop und Wagenburg, Landwirtschaft und Dorfidylle sammeln sich hier in nachbarschaftlicher Eintracht unter dem sonoren Lärm der Autobahn.

Eine zu empfehlende Tour führt vom anliegenden Duisburger Zoo, dessen Brücke über die A3 als Tor zu diesem Raum gilt, auf den Kaiserberg, der sich als städtische Parklandschaft und klassisches Naherholungsgebiet gestaltet. Am Fuß des Berges trifft man auf die Bahntrasse des ICE, die durch klassische Schienenrandnutzungen wie Schrebergärten und Taubenzucht begleitet mitten ins Kreuz führt.

Im Zentrum des Knotens, der überraschend gut durch Fußwege erschlossen ist befindet sich die Pumpstation, die die von den Fahrbahnen abfließenden Wässer sammelt. In nahezu idyllischer Umgebung, hat sich in den Flutungsbecken ein Biotop aus Wasserlilien und Rohrkolben gebildet. Nur der sonore Lärm verweist darauf, dass dieses Biotop nur durch die Autobahninfrastruktur ermöglicht wurde.

Überquert man die imposanteste Kreuzung des Knotens, wo sich Bahntrasse, A3 und A 40 überlagern und eine erstaunliche Verdichtung transitorischer Räume vorführen, findet man direkt hinter der Schallschutzwand eine bürgerliches Wohnidyll mit klassischem Dorfcharakter: Einfamilienhauszeilen, Kirche und Tonstudio im Bunker führen hinter der Schallschutzwand im Ortsteil Werthacker ein einträchtiges Miteinander. Etwas weiter haben sich landwirtschaftliche Betriebe, Ponyhof und Fischzucht die Nachbarschaft der Autobahn auf jeweils eigene Weise zunutze gemacht: der Bauer nutzt die mächtigen Brücken als Trockenplatz und Unterstand für Hornvieh, die Tiere des Ponyhofs grasen zwischen den Fahrbahnen und bei Delikatfisch- Braun entdeckt man im Schatten der großen Straße eine Forellenzuchtanlage, die wie ein Wasserschloss im Ruhrgebietsstil formuliert ist.

Solche Landschaften entstehen aus lokalen Einflüssen und den kulturellen Prägungen ihrer Protagonisten. Sie können weder erdacht noch prognostiziert werden, sondern ergeben sich vielmehr. John Brinckerhoff Jackson nutzt für diese Landschaften den Begriff des Vernakulären: "Es sind Landschaften, deren Bewohner keine Monumente hinterlassen, sondern nur Zeichen des Aufgebens oder Erneuerns. Mobilität und Wandel sind die Schlüssel zur vernakulären Landschaft, aber eher unfreiwillig und wiederstrebend. Sie sind nicht Ausdruck von Ruhelosigkeit und Suche nach Verbesserungen, sondern vielmehr von einer nicht enden wollenden, geduldigen Anpassung an die Umstände. Viel zu oft geht diese Anpassung auf willkürliche Entscheidungen der Mächtigen zurück. Aber ebenso spielen natürliche Bedingungen, Ignoranz, das blinde Vertrauen in lokale Konventionen und die Abwesenheit langfristiger Ziele eine Rolle: das Fehlen dessen also, was wir zukünftiges historisches Bewusstsein nennen würden."(2)

Brinckerhoff Jackson zeigt auf, das in unserer Vorstellung negativ konnotierte Begriffe wie "Aufgeben", "Anpassung", "Ignoranz", "Abwesenheit langfristiger Ziele" oder das "Fehlen historischen Bewusstseins" hier im positiven Sinne gewendet und zur Strategie werden können. Sie schaffen an diesen Orten eine Landschaft "ohne sichtbare Zeichen der politischen Geschichte", eine "Landschaft ohne Gedächtnis"(1), die sich aus sich selbst heraus aktualisiert. Diese Umwertung zeigt Möglichkeiten im Umgang mit uns schwierig erscheinenden, latent offenen Situationen, mit Unstetigkeit, Unentschiedenheit und Unsicherheit, die sich im Kontext transitorischer Räume ständig aufwerfen und denen wir mit den falschen Begriffen begegnen.

Dem folgend könnten das Kreuz Kaiserberg und typologisch ähnliche Räume entlang der A40 als eine solche vernakuläre Landschaft beschrieben werden. Seine Bewohner, die einer steten Erosion ihrer Entwürfe durch die sie umgebenden Umstände ausgesetzt sind, zeichnen einen fluktuierenden Stadtraum auf, der sich durch seine starke Fragmentierung als Objekt einer übergeordneten Betrachtung und Planung stets entzieht, sich aber gleichzeitig als aktives Subjekt konstituiert, das autoproduktiv immer da Stadtraum generiert, wo schon Stadt und noch nicht Zentrum ist.

Es wird entlang der A40 in künstlerischen Projekten und planerischen Perspektiven darum gehen, diesen Raum zu erforschen, zu beschreiben und lesbar zu machen, um aus seinen originären Formen und Typologien zu lernen, bevor er unweigerlich durch seine neue Rolle im Zentrum der Ruhrmetropole überschrieben wird.

Auch wenn diese neue Rolle einen Raum subtiler Komplexität und rauher Schönheit zum Verschwinden bringen wird, sollte man hier mit romantischer Melancholie vorsichtig sein. Denn was von diesem Raum zu lernen ist, was ihn zum urbanen Labor macht ist seine radikale Offenheit für den Wandel, für das Temporäre und das pionierhaft Forschende, das nicht nach der historischen Dimension trachtet sondern nur darauf gerichtet ist, sich ständig neu zu denken und dabei selbst zu aktualisieren.

Markus Ambach 2/2007

(1) B1.21st ist ein interdisziplinäres Projekt zwischen Kunst und Stadtplanung, das den Stadt- und Verkehrsraum A40 als zentralen Kommunikationsraum der Region beschreibt, sichtbar und gestaltbar macht. Künstlerische Leitung: Markus Ambach Planerische Leitung: orange.edge / Stefanie Bremer, Henrik Sander

(2) John Brinckerhoff Jackson, "Landschaften. Ein Resümee", 1984; in "Landschaftstheorie", Brigitte Franzen und Stefanie Krebs (Hrsg.), Verlag der Buchhandlung Walther König, 2005